Ladenschluß

In der realen Welt wird der Ladenschluß immer weiter zurückgedrängt - gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit. Letzten Samstag hätte ich dann bis 24.00 Uhr hier einkaufen können - tat ich dann aber doch nicht, ich saß lieber in einer Kneipe.

Das Netz kennt so etwas wie einen Ladenschluß eigentlich nicht, wie auch - es ist ja weltumspannend. Amazon und Konsorten haben das für Ihren Vorteil nutzen können - gerade als Berufstätiger macht es Shoppen doch etwas streßfreier, wenn man nicht zwischen Feierabend und Ladenschluß oder vor der Arbeit in die Stadt muß.

Mit einiger Überraschung laß ich nun gestern bei Telepolis Florian Rötzers Artikel Der Süddeutschen wird das Internet zuviel, in dem er davon berichtet, daß die Süddeutsche nun zwischen 19.00 und 08.00 Uhr bzw. das ganze Wochenende über die Kommentarfunktion abschaltet - wer dies nicht glauben mag, sei auf die Ankündigung der Chefredaktion verwiesen. Abschalten bedeutet übrigens genau das - Kommentare können überhaupt nicht in das System eingegeben werden.

Wir wollen die Qualität der Nutzerdiskussionen stärker moderieren. Bitte haben Sie deshalb Verständnis, dass wir die Kommentare ab 19 Uhr bis 8 Uhr des Folgetages einfrieren. In dieser Zeit können keine Kommentare geschrieben werden. Dieser “Freeze” gilt auch für Wochenenden (Freitag 19 Uhr bis Montag 8 Uhr) und für Feiertage.

Es ist jetzt nicht so, daß ich diese Kommentarfunktion jemals bei der Süddeutschen oder einer anderen Zeitung genutzt hätte, aber irgendwie hinterläßt eine solche Aktion schon einen schalen Geschmack. Gutmütig könnte man jetzt auf die einstweilige Verfügung gegen Niggemeier verweisen, die eine Zensur der Kommentare nahelegt, man könnte auch ins Feld führen, daß eine auch nächtliche Moderation teuer ist und deswegen vermieden werden sollte. Gleichzeitig muß man sich dann natürlich fragen, wer bei solchen Öffnungszeiten denn überhaupt noch kommentieren kann und soll.

Betrachtet man nun den von Rötzer ebenfalls zitierten Artikel von Bernd Graff Web 0.0 (Die neuen Idiotae), in dem dieser das Internet als

Debattierklub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten

beschreibt und gleichzeitig

Ein Plädoyer für eine Wissensgesellschaft mit Verantwortung

vom Stapel läßt, dann hat man als Gutmütiger ein Problem.

Nach Schirrmacher reitet jetzt also die Süddeutsche gegen das Übel in der Welt des Journalismus an, geheißen das Internet. Aber immerhin hat Graff ja eine gewisse Expertise, was Online-Journalismus angeht, er scheint ja zu den Gründungsredakteuren von sueddeutsche.de zu gehören.

Also dann mal einen Blick in den Artikel riskiert:

Sie1) zerfleddern - wie es gerne auch wir Zeitungsmenschen tun - jedes Thema. Sie tun dies aber oft anonym und noch öfter von keiner Sachkenntnis getrübt.

Das mit der Sachkenntnis merken wir uns mal, daß bei Diskussionen im Netz nicht selten geballtes Halbwissen zum Einsatz kommt - geschenkt.

Die Opferseite internetvictims.de listet im Netz-Rauschen ein Panoptikum an Rufschädigungen, Beleidigungen, Verleumdungen und übler Nachrede auf.

Wieso ist jetzt plötzlich eine Website glaubwürdiger als das sonstige Netz-Rauschen? Und was ist mit jener Zeitung mit den vier großen Buchstaben? Das BILDblog spricht da Bände.

Das “Pew Research Center” in Washington hat im Sommer untersucht, welche Themen auf User-News-Sites wie Digg, Reddit und Del.icio.us für wichtig erachtet werden, […]. So versöhnlich muss man nicht sein: In der Nutzer-Hierarchie von del.icio.us gelangen nur drei Prozent der Nachrichten, die das Weltgeschehen bestimmen, auf die Plätze. Wesentlich wertiger werden hier Stücke über Kaffeekochen in Japan und die Beschaffenheit von Flugzeugsitzen empfunden.

Si tacuisses … auch wenn der Unsinn schon in dem Artikel vom "Pew Research Center" steht, so hätte doch eine kleine Recherche notfalls unter Hinzuziehung der pösen Wikipedia folgendes ergeben: Während man Digg (cf. Digg) und Reddit (cf. Reddit) noch miteinander vergleichen kann, da es sich um Social Bookmarking-Dienste handelt, die sich auf die Sammlung und das Scoring von Nachrichten spezialisiert haben, würde man mit del.icio.us (cf. del.icio.us) die Birne mit den Äpfeln vergleichen. Dieser Dienst ist nicht auf Nachrichten ausgerichtet, sondern dient der Verwaltung allgemeiner Bookmarks. Wie also die Studie eine Vergleichbarkeit konstruierte ist mir nicht so ganz klar, zumal sie ihre Behauptung mit hybschen Diagrammen untermauerte. Naja, manchmal ist auch eigene Recherche ganz sinnvoll, ist ja nur ein Klick - oder man hat Sachkenntnis.

Die etablierten Medien verfügen über rigide Aufnahmeverfahren und praktizieren bei journalistischem Fehlverhalten im besten Fall Sanktionierungen.

So wie die B*LD, oder sind die nicht etabliert?

Ach, ach. Irgendwie weiß man nicht so recht, was dieser Artikel eigentlich sollte. Selbstversicherung des Lesers, daß er auf der richtigen Seite ist, ie. nicht der des pösen Internets? Wiedergabe von Allgemeinplätzen? Redefinition der etablierten Medien auf seriöse solche, mit Ausblendung aller Medien, die nicht so seriös sind? Mahnung bezüglich der Unsicherheit des Wissens? Oder schlichtweg ein Troll? Darüber können sich ja die professionellen Journalisten bei der Süddeutschen den Kopf zerbrechen, aber bitte nur zwischen 08.00 und 19.00 Uhr.

Nachtrag vom 23.12.2007

Stefan Niggemeier kommentierte in der vergangenen Woche in der taz: Die Arroganz der Papierverfechter

1)
das sind die Nutzer des partizipativen Netzes
users/rosenke/blog/20071213-ladenschluss.txt · Last modified: 2018-05-21 13:03 by rosenke
CC Attribution-Share Alike 4.0 International
Driven by DokuWiki Recent changes RSS feed Valid CSS Valid XHTML 1.0